Objekt Nr. 57

Objekt Nr. 57Der Überlichtantrieb meines Raumschiffes fiel zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt aus. Nicht dass es mich überrascht hätte – mein interstellarer Kurierdienst lief schon seit Monaten so schlecht, dass ich mir noch nicht einmal die nötigsten Reparaturen leisten konnte -, doch ich hatte gehofft, die Jo Jones würde wenigstens diesen einen Flug noch überstehen.
Als kräuselnde Rauchfahnen aus der Antriebskonsole vor mir aufstiegen und ein halbes Dutzend roter Warnleuchten hektisch blinkend meine Aufmerksamkeit suchten, wusste ich, dass sich meine Hoffnung nicht erfüllen würde.
Die Sirenen lärmten, ebenso wie mein einziger Passagier, Kanzler Aurelio Sparks, den ich zusammen mit einigen versiegelten Kisten zur Erde bringen sollte.
Die Jo Jones stürzte zurück in den Normalraum. Direkt vor uns tauchte ein blauer, mit grünen und weißen Flecken gesprenkelter Planet auf. Laut meinen Instrumenten war er erdähnlich, mit einer Sauerstoffatmosphäre. Ich korrigierte den Kurs und flog mit dem konventionellen Antrieb planetenwärts.
Nur kurze Zeit später tauchten wir in die Atmosphäre ein.

Mein interstellarer Kurierdienst war eine ziemliche Pleite. Anstatt mich aus den roten Zahlen herauszubringen, hatte er mich nur noch tiefer hineingerissen. Mittlerweile waren meine Schulden so hoch, dass die Gläubiger mein Schiff forderten. Am Ende war mir nur noch der Ausweg geblieben, meine Geschäftsverbindungen in diesem Teil der Galaxis fluchtartig abzubrechen. Kanzler Sparks‘ Auftrag war mir dabei gerade recht gekommen. Ich sollte ihn zur Erde bringen. Doch wie es aussah, würden wir es nicht mehr bis dorthin schaffen. Wir konnten von Glück reden, wenn wir die Landung auf diesem Planeten heil überstanden.

Trotz starker Turbulenzen und einer immer wieder ausfallenden Steuerung, gelang es mir, die Jo Jones durch die Wolkendecke zu manövrieren und auf einer Wiese am Rande eines weitläufigen Sees in einem Stück zu landen.
Ich griff nach einem Feuerlöscher und sprühte seinen Inhalt in die qualmende Konsole. Die Flammen erstickten.
Kanzler Sparks hatte inzwischen soweit die Beherrschung wiedergefunden, dass er mich mit einem Schwall Beschimpfungen eindecken konnte. Seine weißen Haare waren so lang, dass sie sein halbes Gesicht verdeckten – und sie wuchsen weiter.

Der Kanzler gehörte zum Volk der Opalianer, die ihre Emotionen nicht durch Mimik, sondern durch die Länge ihrer Haare zum Ausdruck brachten.
Mir hätte die kleine, bunt gekleidete Gestalt mit ihrer ständig wechselnden Haarlänge egal sein können, wäre da nicht ihr persönlicher Leibwächter gewesen, ein zwei Meter großer Roboter, dessen Waffenarm genau auf meinen Kopf zielte.
»Sie Wahnsinniger!«, schrie Kanzler Sparks außer sich vor Wut. »Was sollte das werden? Ein Anschlag auf mein Leben? Bezahlt Sie die Opposition?«
»Beruhigen Sie sich, Herr Kanzler. Wir haben einen Maschinenschaden, aber ich konnte das Schiff sicher landen. Jetzt besteht kein Grund mehr zur Panik.«
Kanzler Sparks fegte sich aufgebracht die Haare aus dem Gesicht. »Dafür sind Sie verantwortlich. Das ist Ihr Schiff, Sie hätten vor dem Abflug die Flugsicherheit überprüfen müssen.«
»Das hätte ich auch, aber Sie wollten ja sofort starten.«
Der Kanzler ignorierte meinen Einwand. Er schaute an mir vorbei durch die Sichtscheiben hindurch nach draußen. »Wo sind wir hier eigentlich?«
Gute Frage. Ich drehte mich zu einer der Konsolen um und startete den Scanner. Mein Großvater, nach dem ich mein Schiff benannt hatte, musste seine schützende Hand über uns gehalten haben, denn der Planet, auf dem wir notgelandet waren, besaß eine atembare Atmosphäre und ein Klima wie auf der Erde. Es gab Tiere und Wasser im Überfluss. Doch das waren auch schon alle guten Nachrichten, die ich Kanzler Sparks überbringen konnte.
Er sah mich mit sich kräuselnden Haaren an, als ahnte er, dass ich mir die Hiobsbotschaft bis zum Schluss aufgespart hatte.
»Und wo sind wir nun?«
»So wie es aussieht, hatte unser Überlichtantrieb schon vor seinem Ausfall eine Störung. Wir sind Lichtjahre vom einprogrammierten Kurs entfernt, weitab von allen Handelsrouten.«
Kanzler Sparks‘ Haare raubten ihm schlagartig die Sicht. »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!«, rief er. »Ist Ihnen eigentlich klar, dass ich in drei Tagen auf der Erde sein muss? In den Kisten in Ihrem Laderaum befinden sich die Ergebnisse jahrelanger Forschung. Der Präsident erwartet von mir, dass ich ihm unsere Entwicklungen feierlich übergebe. Dieser Termin steht nun schon seit Monaten fest. Wie würde das wohl aussehen, wenn der wissenschaftliche Kanzler zu diesem Staatsakt zu spät käme?«
Ich zuckte die Achseln. »Was soll ich machen? Unser Unfall war höhere Gewalt.«
Der Kanzler atmete ein paar Mal tief durch, während seine Haare langsam wieder kürzer wurden. Als er mich sehen konnte, fragte er: »Wie lange wird die Reparatur dauern?«
»Ich fürchte, ich kann den Antrieb nicht reparieren«.
»Aber Sie haben sich den Schaden ja noch gar nicht angeschaut.«
»Ich bin Pilot, kein Mechaniker. Ich verstehe nicht das Geringste von Überlichttriebwerken«, sagte ich. »Deshalb fliegt normalerweise immer ein Techniker mit, aber Sie hatten es ja so eilig, dass Sie nicht auf ihn warten wollten.«
»Eilig habe ich es noch immer, also lassen Sie sich etwas einfallen.« Er überlegte kurz. »Was ist mit dem Funkgerät? Können Sie nicht Hilfe herbeirufen?«
»Das Funkgerät hat mein Techniker zur Reparatur mitgenommen.«
Kanzler Sparks schnappte nach Luft. »Verdammt! Es ist mir egal, wie Sie es anstellen, aber ich will in drei Tagen auf der Erde sein.«
Über so viel Sturheit konnte ich nur den Kopf schütteln. »Ich sagte Ihnen doch, ich kann das Schiff nicht reparieren. Ich verstehe etwas von Koordinatensystemen, Sprungvektoren und Flugbahnberechnung, aber rein gar nichts von Überlichttriebwerken. Mir fehlt das nötige Wissen, um uns von hier fortzubringen.«
»Ihnen fehlt das nötige Wissen?« Kanzler Sparks sah mich mit einem seltsamen Blick an. »Dann müssen wir dafür sorgen, dass Sie es bekommen.« Er drehte sich um und verschwand in der Tür, die zum Laderaum führte. Sein Leibwächter folgte ihm mit schweren Schritten.
Ich öffnete die Luftschleuse und trat hinaus ins Freie. Vorsichtig sog ich die Luft ein. Sie war von vielfältigen Düften erfüllt und roch viel besser als die wieder aufbereitete Luft im Innern der Jo Jones.
Einen Steinwurf von mir entfernt erhob sich ein Wald aus Bäumen, die wie Korkenzieher gedreht waren und runde, lilafarbene Blätter hatten. Ein Stück weiter lag ein kleiner See, über dem Schwärme bunter Vögel kreisten.
Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel und dankte meinem verstorbenen Großvater, dass er mich auf diese Welt geführt hatte. Hier würde ich es einige Zeit aushalten können: keine Gläubiger, die ihre Schulden eintreiben wollten; keine Gesetze, mit denen ich in Konflikt geraten konnte, einfach nur Ruhe.

Ich ging zu den Bäumen hinüber und suchte mir einen passenden Ast. Ein paar Minuten später saß ich mit einer selbst gebastelten Angel am See, schaute den Fischen zu, die misstrauisch meinen Köder umschwammen, und genoss die Stille.
Kanzler Sparks‘ sägende Stimme machte der Idylle ein Ende.
Ich drehte mich um und sah ihn hinter seinem Leibwächterroboter aus der Schleuse treten. Er hatte bereits wieder eine Glatze.
»Kommen Sie! Ich habe eine Lösung für unser Problem.«
Sein Roboter stellte etwas auf den Boden, das wie eine Mischung aus elektrischem Stuhl und einer Trockenhaube aussah. Ich legte die Angel beiseite und stand auf.
Mit einem unguten Gefühl im Magen ging ich zu Sparks hinüber. Mit krausgezogener Stirn betrachtete ich den seltsamen Gegenstand. »Wie soll uns dieses Ding denn von hier fortbringen?«
Kanzler Sparks strich mit der Hand über die halbrunde Haube, die an einem beweglichen Arm direkt über dem Stuhl hing. Zahlreiche Kabel führten von ihr bis zu einem Schaltpult auf der Rückseite, auf dem Unmengen von Lampen leuchteten.
»Das ist Objekt Nr. 57«, erklärte er. »Eine der Neuentwicklungen, die ich dem Präsidenten übergeben werde.« Er deutete auf die Sitzfläche. »Nehmen Sie Platz!«
Ich zögerte. »Wozu?«
»Damit Sie lernen, das Schiff zu reparieren. Sie selbst haben gesagt, dass Ihnen die nötigen Kenntnisse fehlen. Objekt Nr. 57 ist ein Wissensinduktator. Er wird alles, was Sie wissen müssen, direkt in Ihrem Gehirn speichern. Ich habe aus seinem Archiv schon den Komplex Raumfahrttechnik herausgesucht.«
Ich schüttelte den Kopf. »Kommt nicht infrage! Ich lass mir nicht von einer Maschine Wissen ins Gehirn blasen.« Und schon gar nicht, wenn diese Maschine vom unfähigen Wissenschaftsrat entwickelt wurde, fügte ich in Gedanken hinzu.
Kanzler Sparks setzte zu einer, zweifellos heftigen Erwiderung an.
Hastig kam ich ihm zuvor: »Wie wäre es, wenn Sie sich stattdessen den Schaden an meinem Schiff anschauen würden. Vielleicht können Sie es ja reparieren!«
Kanzler Sparks packte mich am Arm. »Ich bin Politiker und kein Mechaniker. Nein, unsere einzige Chance, von hier fortzukommen, ist Objekt Nr. 57.« Mit sanfter Gewalt drückte er mich auf den Stuhl. »Machen Sie sich keine Sorgen, es ist ungefährlich.”
»Das behaupten Sie, aber jedermann weiß, wie störanfällig die Erfindungen des Wissenschaftsrates sind!«
Der Kanzler schüttelte ärgerlich den Kopf. »Unsere Neuentwicklungen sind nicht störanfällig, sondern nur empfindlich. Das ist ein großer Unterschied. Und Objekt Nr. 57 ist technisch vollkommen ausgereift. Oder glauben Sie, wir würden den Wissensinduktator sonst dem Präsidenten übergeben?«
»Was weiß denn ich. Vielleicht arbeiten ja Sie für die Opposition.«
Ich dachte über die Möglichkeiten nach. Wenn die Haube wirklich so funktionierte, wie Sparks behauptete, würde ich in Zukunft keinen Techniker mehr brauchen. Vielleicht erreichte ich dann endlich mal die Gewinnzone. Obwohl meine innere Stimme mir lautstark davon abriet und Kanzler Sparks alles andere als vertrauenerweckend wirkte, blieb ich sitzen. Das ungute Gefühl in meinem Magen verstärkte sich noch, als er mir die Haube über den Kopf stülpte.
»Entspannen Sie sich. Sie werden in wenigen Sekunden so viel über Raumfahrttechnik lernen wie andere in ihrem ganzen Leben. – Ach, was sage ich, ein einziges Leben reicht dafür noch nicht einmal aus.«
Er schaltete Objekt Nr. 57 ein. Ein Blitz hüpfte durch meinen Kopf.
»Das war‘s schon.« Kanzler Sparks zog mir die Haube vom Kopf.
Benommen blieb ich sitzen. Ich fühlte mich seltsam, als ob ein Gewitter in meinem Kopf tobte, nur dass die Blitze Schaltpläne und Diagramme waren.
»Wie geht es Ihnen?«
»Keine Ahnung.« Ich schaute zu meinem Schiff hinüber, das vor meinem inneren Auge in seine Bestandteile zerfiel. Ich konnte plötzlich selbst die kleinste Schraube benennen, kannte ihre technischen Spezifikationen. Ja, selbst ihre Bestellnummer wusste ich. Es war unglaublich. Wahrscheinlich hätte ich mit verbundenen Augen den Antrieb meines Schiffes zerlegen und wieder zusammenbauen können.
Plötzlich fielen mir auf Anhieb ein Dutzend Möglichkeiten ein, wie ich die Jo Jones modifizieren konnte. Ich wusste, wie ich die Leistung meines Antriebes erhöhen könnte, oder wie sich die Stärke der Schilder verdoppeln ließe. Ich verstand gar nicht, wie ich die ganze Zeit über hatte so dumm sein können. Es kam mir vor, als wäre ich bis jetzt blind durch das Leben gelaufen und nun hatte die Maschine mir die Augen geöffnet. Jetzt wusste ich alles!
Fast alles, stellte ich plötzlich mit erschreckender Klarheit fest. Etwas Wichtiges hatte ich vergessen: meinen Namen!
Ich starrte Kanzler Sparks bestürzt an. »Ich ... ich weiß nicht mehr, wie ich heiße!«
Kanzler Sparks wirkte nicht überrascht. »Der Verlust einiger Erinnerungen ist vollkommen normal; schließlich muss Ihr neues Wissen ja irgendwo gespeichert werden. Ihr Name wurde dabei wahrscheinlich überschrieben.«
»Und das sagen Sie mir erst jetzt!« Ich sprang aus dem Stuhl hoch und prallte fast gegen Sparks‘ Roboter, der sich blitzschnell zwischen mich und den Kanzler gestellt hatte.
»Regen Sie sich ab. Was sind ein paar Gedächtnislücken, wenn Sie dafür mehr wissen als der beste Techniker der ganzen Flotte. Außerdem ist es nur wichtig, dass Sie mich zur Erde bringen.«
Ich schnappte nach Luft. »Aber wer weiß, was ich sonst noch vergessen habe?«
»Was Sie vergessen haben, wissen Sie nicht mehr. Also brauchen Sie sich darüber auch keine Gedanken zu machen. Davon abgesehen, werden in den meisten Fällen nur unwichtige Erinnerungen überschrieben.«
»Mein Name ist ganz sicher keine unwichtige Erinnerung.«
Plötzlich schien sich mein Magen zusammenzuziehen. Entsetzt blickte ich Kanzler Sparks an. »Ich kann mich auch nicht mehr an meine Frau erinnern! Mir fällt nicht einmal ein, wie sie aussieht.«
Sparks stieß ärgerlich die Luft aus. »Reißen Sie sich zusammen, Mann. Sie sind überhaupt nicht verheiratet!«
»Das behaupten Sie! Aber wie soll ich das nachprüfen, wenn ich mich an nichts erinnern kann?«
Kanzler Sparks verlor die Geduld. Ruckartig wurden seine Haare wieder länger. »Es ist mir vollkommen egal, was Sie alles vergessen haben! Hier geht es nicht um Sie. Ich muss in drei Tagen auf der Erde sein und Sie werden mich dorthin fliegen! Und jetzt machen Sie sich gefälligst an die Arbeit.«
Ich begann mit den Reparaturen und stellte schon bald fest, dass mir nicht nur neues Wissen zugeflossen war, auch meine Fingerfertigkeit hatte sich verbessert. Die Arbeit ging mir wie von selbst von der Hand. Ich war so in Fahrt, dass ich nicht nur das Schiff reparierte, sondern auch noch die längst fälligen Inspektionen durchführte. Fast hätte ich der Jo Jones sogar einen neuen Anstrich verpasst, aber leider hatte ich nicht genug Farbe an Bord.
Nachdem der Roboter Objekt Nr. 57 wieder im Laderaum verstaut hatte, machte ich alles für den Start bereit. Die Kontrolllampen zeigten ein beruhigendes grünes Leuchten und selbst die normalerweise rumpelnde Klimaanlage lief einwandfrei.
Kanzler Sparks war so zufrieden, dass seine Haare wieder einer Glatze gewichen waren. Sogar seine Augenbrauen fehlten.
Er saß neben mir im Stuhl meines Technikers und schien in Gedanken bereits die Rede an den Präsidenten durchzugehen.
Ich startete mein Schiff und beendete damit Kanzler Sparks‘ euphorische Gedankenflüge. – Die Jo Jones rührte sich nicht!
Der Kanzler tobte und seine langen Haare wirbelten wie Fangarme durch die Luft. »Sie Stümper! Wie kann es angehen, dass Sie mit all dem Wissen, dass ich Ihnen gegeben habe, nicht in der Lage sind, dieses Schiff zu reparieren? Versuchen Sie mich absichtlich hinzuhalten? War am Ende alles so geplant?«
Ich ignorierte ihn und startete eine Systemanalyse. Es dauerte nur einen Augenblick, dann zeigte einer der Bildschirme den Fehler an.
Ich ließ enttäuscht die Schultern sinken. »Es ist ein Softwareproblem«, erklärte ich. »Ein Teil der Schiffsprogrammierung wurde bei unserer Notlandung gelöscht, und diese Routinen sind für den Start notwendig.« Ich schaltete den Antrieb wieder aus. »Ohne sie kommen wir nicht von hier fort.«
»Dann reparieren Sie die Software endlich!«
»Das ist nicht die Arbeit eines Technikers, dafür müsste ich Programmierer sein.« Ich verschränkte die Arme und lehnte mich in meinem Sessel zurück. »Es tut mir leid, aber so wie es aussieht, bleiben wir noch eine Weile hier.«
Der Kanzler starrte mich drohend an – zumindest glaubte ich, dass seine sich kräuselnden Haare eine Drohung ausdrückten.
»Freuen Sie sich nicht zu früh. Wenn wir einen Programmierer brauchen, machen wir eben einen aus Ihnen.«
Ich schüttelte abwehrend den Kopf. »Oh, nein! Wenn Sie unbedingt von hier fortwollen, können Sie es ja mal selbst probieren, aber ich habe die Nase voll von Ihrer Maschine.«
»Kommt nicht infrage! In Objekt Nr. 57 ist ein ganzes Archiv an Wissen gespeichert. Dort ist alles zu finden: von den Naturwissenschaften bis hin zur Geschichte der Weinflasche, und wenn es mir hilft zur Erde zu kommen, werde ich Ihnen jedes einzelne Archiv ins Gehirn blasen.«
Er gab seinen Roboter den Befehl, mich zu packen und in den Laderaum zu tragen.
Ich strampelte mit Händen und Füßen, ohne dass der stählerne Koloss sich davon beeindrucken ließ. Er hielt mich so fest, dass ich mir wie ein verschnürtes Paket vorkam.
»Hören Sie auf, sich zu wehren. Es hat sowieso keinen Sinn, außerdem könnten Sie sich verletzen und wer sollte dann das Schiff fliegen?«
Der Roboter setzte mich auf Objekt Nr. 57 und Kanzler Sparks stülpte mir die Haube über den Kopf.
»Nicht verkrampfen«, sagte er und schaltete das Gerät ein.
Wieder schoss ein Blitz durch meinen Verstand. Begriffe wie Compiler, Stack oder Overflow drängten sich in meine Erinnerungen. Programmierbefehle, von denen ich noch nicht einmal geahnt hatte, dass es sie gab, machten sich in meinem Kopf breit.
Schlagartig beherrschte ich ein Dutzend Sprachen. Sprachen, die aus einem Roboter oder einem Computer eine künstliche Intelligenz machten oder ein Raumschiffantrieb zum Leben erweckten.
Ich wusste nicht, ob es daran lag, dass ich mich trotz Sparks‘ Rat doch verkrampft hatte, oder ob sein Gerät einfach nur defekt war, aber es knallte laut. Der Stuhl unter mir fing an zu zittern und Lichtblitze umzuckten mich.
Kanzler Sparks brachte sich mit einem entsetzten Schrei hinter einer der Kisten in Sicherheit. Selbst sein Leibwächterroboter war so intelligent, mich loszulassen und ein paar Schritte zurückzutreten.
Licht durchflutete meinen Kopf. In immer kürzeren Abständen zuckten Blitze auf und hämmerten mir neues Wissen ein. Ich war plötzlich Experte für altterranische Kirchengesänge. Kurz darauf hätte ich jedes noch so ausgefallene Gericht kochen können. Über Biologie, Mathematik, Chemie oder Astronomie wusste ich ohnehin schon alles. Es gab keine Fremdsprache, die ich nicht verstanden hätte. Und es wurde immer noch mehr! Mein Kopf fühlte sich an wie ein Luftballon kurz vor dem Zerplatzen.
Vor meinen Augen kreisten seltsame Bilder: Dürers betende Hände griffen nach den Gleichungen von Einstein, das menschliche Genom tanzte zu der Musik von Tschaikowsky und das Periodensystem floss durch den menschlichen Blutkreislauf, um in einer Bouillabaisse zu enden.
Objekt Nr. 57 flog auseinander. Die Haube löste sich von meinem Kopf und polterte zu Boden, rauchende Kabel hinter sich herziehend. Das Zittern ebbte ab und mit ihm die Lichtblitze.
Benommen saß ich auf den Überresten des Stuhls. Ich hatte das Gefühl, als würde der Raum sich spiralförmig um mich drehen. Nur langsam fand ich in die Wirklichkeit zurück.
Eine Gestalt schaute hinter einer der Kisten hervor. »Geht es Ihnen gut?«, fragte sie.
Ich nickte langsam.
Die Gestalt richtete sich auf und kam mit schnellen Schritten auf mich zu. »Anscheinend hatte Objekt Nr. 57 eine Fehlfunktion und hat Ihnen dabei das gesamte Wissen aus dem Archiv eingespeichert. Ich hatte für einen Moment Bedenken, dass Ihr Gehirn diese Belastung nicht überstehen würde.«
»Kennen wir uns?«
Die Augen meines Gegenübers quollen hervor. Schlagartig sprossen aus seiner Kopfhaut unzählige, winzig kleine Haare.
»Natürlich! Ich bin Kanzler Sparks. Ich habe Sie und Ihr Schiff gechartert, damit Sie mich zur Erde bringen. Erinnern Sie sich nicht mehr?«
»Schiff? Welches Schiff? Und überhaupt, wo soll das sein? Erde?«
Die Haare der kleinen Gestalt sprossen wie Unkraut im Frühling. »Um Himmelswillen! Versuchen Sie sich zu erinnern«, flehte sie.
Ich schüttelte den Kopf. »Vielleicht später. Zuerst muss ich Einsteins Relativitätstheorie korrigieren und Beethovens Unvollendete vollenden. Danach werde ich vielleicht eine Zeitmaschine konstruieren. Das wollte ich schon immer mal tun. Sie können sich ja derweil um unser Mittagessen kümmern. Es kann länger dauern ...«

(c) Uwe Hermann

 

Die Arbeitsplatz-LotterieDiese und weitere Geschichten findet Ihr in meinem eBook "Die Arbeitsplatz-Lotterie"


Lesen Sie, wie ein Mann seiner shoppingsüchtigen Frau das Sparen beibringen will, oder wozu Menschen getrieben werden, wenn Arbeitsplätze nur noch zu gewinnen sind. Erfahren Sie, dass das Universum und der ganze Rest nur eine gigantische Täuschung sind, und dass es Häuser gibt, in denen die Treppen in den Keller auch schon mal nach oben führen können.

 

 

12 weitere Kurzgeschichten – darunter drei Erstveröffentlichungen - voller Humor und Irrwitz.

Als eBook und Taschenbuch!

Bei Amazon kaufen

Cookies erleichtern die Bereitstellung unserer Dienste. Mit der Nutzung unserer Dienste erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Cookies verwenden.
Ok Ablehnen