Hier findet Ihr die ersten Kapitel meines Fantasyromans für junge und jung gebliebene Leser. Viel Spaß mit Alvin, Zodiac und den anderen Verrückten aus Birkstedt.
Die komplette Geschichte gibt es als eBook. Aber vorsichtig: Dies ist keine normale Fantasygeschichte! Seid auf alles vorbereitet.
Lehrjahre einer Magierin
Ein Land voller Magie
Kapitel 1- Am Rande von Birkstedt
Der Wochenmarkt war an diesem sonnigen Tag gut besucht. Unzählige bunt gekleidete Menschen umringten die vielen Verkaufsstände mit Obst, Gemüse und etlichen exotischen Dingen, in denen nicht selten noch die erstaunliche Magie der Alten wohnte.
Ein quirliges Mädchen drängte sich an den Männern und Frauen vorbei, die auf dem Marktplatz vor dem Stand des Gemüsehändlers standen und mit ihm um den Preis seiner Waren stritten. Sie wartete einen günstigen Moment ab und griff dann blitzschnell zu. Eine Handvoll Möhren verschwanden vom Verkaufstisch.
Der Gemüsehändler drehte den Kopf und sah gerade noch, wie das Mädchen sich erneut bediente. Die Augen des kleinen, mageren Mannes wurden so groß wie die Melonen, die er verkaufte. »Hey!«, schrie er.
Das Mädchen drehte sich blitzschnell um und verschwand in der Menge.
»Haltet die Diebin!«, rief der Händler und zeigte auf sie. »Die Kleine dort!«
Das Mädchen rannte haken schlagend über den Marktplatz und wich den Menschen aus, die ihr entgegenkamen. Ein paar Köpfe hoben sich. Jemand streckte seine Hand nach der kleinen Gestalt aus, doch das Mädchen war flink wie ein Wiesel. Sie sprang zur Seite und der Mann, der sie festhalten wollte, griff ins Leere.
Vor dem Mädchen tauchte ein Verkaufsstand mit einer eilig errichteten Umzäunung auf, hinter der sich ein Dutzend Ferkel und Schweine tummelten. Sie quiekten so laut, dass sie fast die wütenden Schreie des Gemüsehändlers übertönten. Das Mädchen riss im Vorbeilaufen den Zaun um. Die Ferkel waren über ihre wieder gewonnene Freiheit so erfreut, dass sie sich sofort über den ganzen Marktplatz verteilten. Während der Besitzer fluchend seine Tiere wieder einfing, verschwand das Mädchen in einer schmalen Seitengasse.
Frichhelm Meisbach stand regungslos hinter seinem Verkaufstisch, auf denen sich sein Gemüse stapelte und sah hilflos mit an, wie die kleine Gestalt entkam. Die magere Gestalt des Händlers bebte vor Zorn. »Dieses Mal bist du zu weit gegangen«, murmelte er. »Ich lasse mich doch nicht jede Woche von dir bestehlen. Und glaub nur nicht, dass ich nicht weiß, wer du bist.«
*
Die kleine Gestalt wechselte noch zweimal die Richtung und erst, als sie sicher war, dass ihr niemand folgte, hielt sie an und verstaute die Möhren in ihre weite Umhängetasche. Das Gesicht des Kindes war unter einem breiten Hut verborgen. Als sie ihn abnahm und auf den Rücken gleiten ließ, kamen halblange, blonde Haare und ein schmales Gesicht mit Augen, die so grün wie frisch gemähter Klee waren, zum Vorschein. Einige ihrer Haare hatte sie zu Zöpfen geflochten, die rechts und links neben ihrem Gesicht über der Schulter hingen.
Das Mädchen sah sich kurz um. Dann schlug sie den Weg ein, der aus der Stadt herausführte. Ihr Name war Alvin. Sie war die Tochter des Schuhmachers, und eigentlich hätte sie um diese Zeit in einem der Lernhäuser sitzen und sich die Vorträge der Erwachsenen anhören müssen, doch sie hielt nichts von diesen Häusern; zumal man dort auch noch jeden Tag erscheinen musste. Die wirklich wichtigen Dinge lernte man nur, wenn man die Augen offenhielt und das Leben aufmerksam betrachtete. Wen interessierte es schon, dass die Welt eine Halbkugel war und aus Birkstedt und fünf oder sechs weiteren Dörfern bestand?
*
Nach einiger Zeit wurden die Abstände zwischen den Häusern größer, und Alvin kam an einen halb verfallenen Torbogen, der sich über die Straße spannte und das Ende der Stadt markierte. Der Torbogen, noch aus der Zeit des magischen Krieges, war Teil der uralten Stadtmauer, über und über mit verschnörkelten Schriftzeichen bedeckt und so hart, dass nicht einmal die besten Hämmer des Schmiedes ihn ankratzen konnten - und doch war er in dem magischen Krieg beschädigt worden. Wenn Alvin durch den Torbogen ging, spürte sie jedes Mal einen Schauer über ihren Rücken laufen. Niemand in der Stadt konnte sich noch an den magischen Krieg erinnern, selbst der alte Hodde, von dem manche behaupteten, er wäre schon lange tot und nur zu faul, um ins Grab zu steigen, war damals noch nicht geboren. Doch obwohl der Krieg Ewigkeiten her war, fanden sich überall noch Reste aus jener magischen Zeit. Bauwerke und Artefakte, die der Zerstörung entgangen waren. Die ganze Welt war voller Magie, und wenn man die Augen aufhielt, konnte man die wunderbarsten Dinge erleben.
Das Mädchen ließ die letzten Häuser von Birkstedt hinter sich. Sie blieb noch eine Zeit lang auf der breiten Straße, dann bog sie in einen schmalen Feldweg ab, der sich stetig ansteigend einen Hügel hinaufschlängelte. Die Büsche, die zu beiden Seiten des Weges wuchsen, wurden mit der Zeit immer dichter. Rot blühende Vogelbüsche, mit Beeren so groß wie Äpfel, wechselten sich mit stacheligen Distelsträuchern ab.
Die Sonne, eingebettet in einem Meer aus Wolken, näherte sich ihrem höchsten Stand, als Alvin endlich die Anhöhe erreichte. Unter sich im Tal sah sie die ungezählten Häuser und Türme von Birkstedt, durchteilt von einem kleinen Fluss, der die Stadt in zwei gleiche Hälften zerschnitt und hoch im Norden aus einem gewaltigen, machtvollen Strom entsprang. Dahinter begann der Wald, der bis zum Ende der Welt reichte und dessen dunkle Geheimnisse schon manchem Neugierigen zum Verhängnis geworden waren. Im Osten, von Nebelschwaden verdeckt, erhoben sich die spitzen Zähne des Nebelgebirges und begrenzten das Land auf dieser Seite. Früher sollte diese Welt einmal viel größer gewesen sein, so groß, dass man monatelang reiten konnte, ohne an deren Ende zu gelangen. Doch Alvin glaubte nicht daran. Warum sollte sich jemand die Mühe machen und eine so große Welt für so wenig Menschen erschaffen?
Eichenbäume mit Stämmen so dick, dass Alvin sie nicht einmal umfassen konnte, bedeckten die Anhöhe und warfen ihre Schatten auf ein paar windschiefe Holzhütten und auf eine eingezäunte Weide, auf der drei Pferde grasten. Dieser Ort war voller Erinnerungen. Jeder Baum, jeder Strauch, ja selbst der Wind, der hier oben stärker wehte, schien ihr eine Geschichte zuzurufen.
Als Alvin die Möhren aus ihrer Tasche holte und die Pferde fütterte, dachte sie an die unzähligen Male, die sie und ihre Mutter hier oben gewesen waren. Sie wussten nicht, wem die Tiere gehörten oder wie sie hießen, und so hatten sie ihnen eigene Namen gegeben. Wölkchen, eine junge, verspielte Stute, die schneeweiß gewesen wäre, hätte sie sich nicht ständig im Dreck gewälzt, war die Verfressenste unter ihnen. Wenn sie Alvin und ihre Mutter sah, kam sie mit wirbelnden Hufen herangaloppiert und machte sich über die Äpfel oder die Möhren her. Gevatter kam stets mit der Ruhe des Alters näher. Er war ein in die Jahre gekommenes Arbeitspferd, das wahrscheinlich Ewigkeiten einen Pflug über die Felder gezogen hatte. Sein Fell war an vielen Stellen grau und dort, wo das Geschirr gesessen hatte, ganz kahl. Eine kastanienbraune Stute mit heller Mähne hatten sie Flocke genannt. Flocke war sehr scheu, und es hatte lange gedauert, bis sie ihr Misstrauen ablegte und ihnen das erste Mal aus der Hand fraß.
Alvin und ihre Mutter kamen fast täglich, um die Tiere zu füttern, und während die Pferde fraßen, erzählte ihre Mutter ihr Geschichten. Sie konnte wundervolle Geschichten erzählen: von Elfen, Zauberer, Kobolde und urkomische Fabeltiere. Alvin hatte stundenlang ihrer Stimme gelauscht und alles um sich herum vergessen. Die Pferde standen am Gatter und spitzten die Ohren, und fast schien es, als würden die Tiere nicht nur wegen der Möhren kommen.
Und dann war ihre Mutter plötzlich gestorben. Einfach so. Sie war nicht krank gewesen, sie war nur einfach eines Morgens nicht mehr erwacht, so, als wollte der Schlaf sie nicht mehr gehen lassen.
Als Alvin an jenem verschneiten Wintermorgen aufwachte, war ihr Vater nicht wie sonst schon lange in der Schusterei, um Schuhe zu besohlen, sondern er erwartete sie in der Küche. Er hatte Alvin schweigend angeblickt und in den Arm genommen, und da hatte sie gewusst, dass etwas Schreckliches geschehen war.
Ohne dass es ihr bewusst wurde, berührte sie den Anhänger, den sie an einer dünnen Kette um den Hals trug. Ihre Mutter hatte ihr das Silberkettchen mit dem kirschgroßen, klaren Stein ein paar Tage vor ihrem Tod geschenkt.
Gevatter blickte Alvin aus großen, dunklen Augen an. Dann wieherte er, und es klang wie: »Es wird alles gut.« Es hätte aber auch ebenso gut: »Ich will noch Möhren!« heißen können. Alvin verteilte ihr letztes Diebesgut und machte sich dann auf den Rückweg nach Birkstedt. Die Sonne war bereits ein gutes Stück weiter gewandert, und es würde nicht mehr lange dauern, bis sie im Osten hinter dem Nebelgebirge verschwand. Es war nicht gut, wenn man sich dann noch im Wald herumtrieb. Hier gab es Wölfe, die nur nachts hervorkamen, und Elfen, die jedem, den sie trafen, die Füße weghexten.
Alvins Vater war Schuster, und da er nicht nur der beste, sondern auch der einzige in der Stadt war, konnte er sich vor Arbeit kaum retten und hatte nur wenig Zeit für Alvin. Hätte er gewusst, wo sie sich ständig herumtrieb, hätte er ihr sicher eine Standpredigt gehalten.
Kapitel 2 - Hinter Gittern
Alvin hatte Birkstedt längst wieder betreten und schlenderte die grauen Kopfsteinpflasterstraßen entlang nach Hause, als ihr die Reiter begegneten. Es waren fünf. Vier von ihnen trugen die dunkelroten Jacken und die schwarzen Hosen der Stadtwache, mit Schwertern an ihren Gürteln. Der fünfte trug normale Kleidung und war unbewaffnet. Vorneweg ritt der Hauptmann der Stadtwache, ein groß gewachsener, kräftiger Mann mit Glatze und einem hellblonden Walrossbart, der ihr einen so finsteren Blick zuwarf, dass Alvin kaum zu atmen wagte.
»Das ist sie!«, rief plötzlich der Reiter in der normalen Kleidung und deutete mit dem Finger auf sie - und dann erkannte Alvin in ihm Frichhelm Meisbach, den Gemüsehändler.
Bevor Alvin auch nur wusste, was geschah, war einer der Reiter von seinem Pferd gesprungen und packte sie. Soviel sie auch kreischte, schimpfte und sich wehrte, sie konnte nicht verhindern, dass sie hochgehoben und mitgenommen wurde.
Man brachte sie in ein mehrstöckiges, dunkelrotes Gebäude, das direkt an dem großen Wall lag, der Birkstedt nach Norden hin absicherte. Im Keller befanden sich einige Zellen, die zwar nicht oft, aber doch hin und wieder benutzt wurden. In so eine Zelle brachte man Alvin.
Die Tür fiel hinter ihr zu, und die Wache ließ sie in dem schummrigen Keller allein. Alvin schaute sich um. Der Raum war nicht sehr groß, mit einem kleinen, vergitterten Fenster in der rückwärtigen Steinwand, durch das schwaches Tageslicht auf eine breite Liege und auf einen Holztisch mit einem Stuhl davor fiel. Auf der Liege lag eine graue Decke, die roch, als wäre sie seit dem magischen Krieg nicht mehr gewaschen worden, und Alvin beschloss, ihr lieber nicht zu nahe zu kommen - wer wusste schon, welches Ungeziefer sich darunter verbarg?
Sie zog den Stuhl zu sich heran und setzte sich. Sie konnte es noch immer nicht glauben, dass man sie nur wegen ein paar Möhren eingesperrt hatte. Wenn ihr Vater davon erfuhr, würde er ein Höllenspektakel machen - Alvin wusste nur noch nicht, wem.
Ein paar Meter neben ihr raschelte es. »Was hast du denn angestellt?«
Alvin drehte den Kopf und sah einen schmächtigen Jungen, fast schon mager, vielleicht drei oder vier Jahre älter als sie, der zwei Zellen weiter auf seiner Liege saß und die Beine baumeln ließ. Er trug eine braune Jacke und eine gleichfarbige Hose, die in dunklen Stiefeln steckte. Seine blonden, struppigen Haare waren dermaßen zerzaust, dass man sie wahrscheinlich nur noch mit einer Schere kämmen konnte.
»Ich habe gar nichts angestellt«, behauptete Alvin. »Ich weiß nicht, warum man mich hier eingesperrt hat.«
Der Junge grinste breit. »Na klar, das sagen alle.«
Alvin betrachtete den Jungen näher. Sie hatte ihn zuvor noch nie in der Stadt gesehen. »Du bist nicht von hier.«
»Nein, ich bin ein Baumläufer.«
»Aha, und was ist ein Baumläufer?«
Die Beine des Jungen stoppten abrupt ihre Auf-und-ab-Bewegung. »Du weißt nicht, was ein Baumläufer ist? Wie viele Jahre bist du hier denn schon eingesperrt?« Seine Beine setzten sich wieder in Bewegung. »Wir Baumläufer leben außerhalb eurer Dörfer, in kleinen Siedlungen tief in dem finstersten Teil des Waldes, wo sich nicht einmal Wölfe oder Elfen hinwagen. Wir kennen jeden Baum und jeden Strauch. Es gibt keinen Ort im Wald, der sich vor uns verbergen kann. Des Nachts singen wir mit dem Wind oder lauschen den Geschichten der Tiere.«
»Und was tust du hier in Birkstedt?«
»Das hat sich so ergeben«, sagte der Baumläufer ausweichend.
»Das heißt?«
Der Junge schaute verlegen auf seine Stiefelspitzen.
»Ich habe mich verlaufen«, gab er kleinlaut zu.
»Ein Baumläufer, der jeden Baum und jeden Strauch kennt?«
»Na und«, antwortete er trotzig. »Hast du eigentlich eine Ahnung, wie groß der Wald ist? Da kann man sich schon mal verlaufen. Behaupte nur nicht, dir wäre so etwas noch nie passiert.«
»Doch, natürlich«, grinste Alvin. »Wie ist dein Name?«
Der Junge legte den Kopf schief und schaute sie misstrauisch an.
»Tam-Tam«, sagte er dann.
»Ich heiße Alvin.«
»Alvin? Komischer Name für ein Mädchen.«
»Heh, dein Name klingt auch nicht gerade alltäglich.«
»Reg' dich nicht auf. Ich meinte ja nur, dass Alvin doch eigentlich ein Jungenname ist.«
»Trotzdem heiße ich so! Was dagegen?«
Tam-Tam schüttelte schnell den Kopf.
»Nein! Natürlich nicht. Schön dich kennenzulernen, Alvin. Allerdings solltest du deinen Namen für dich behalten, solange du hier eingesperrt bist. Hast du denn noch nichts von dem unglaublichen Magier gehört, der in eurer Stadt leben soll? Wenn der erst einmal deinen Namen erfahren hat, bist du ihm hilflos ausgeliefert und musst alles tun, was er dir befiehlt.« Tam-Tam stand auf und trat ganz nahe an die Gitterstäbe heran. »Er soll riesengroß sein, mit einem zotteligen Fell und Krallen, die so lang, wie mein Arm sind«, flüsterte er. »Man sagt, er kann in der Nacht sehen, und er frisst seine Feinde mit Haut und Haaren.«
Alvin winkte ab. »Das sind doch alles nur Kindermärchen. Ich wohne schon viele Jahre in Birkstedt. Wenn es diesen Magier wirklich geben würde, hätte ich ihn längst gesehen.«
Tam-Tam drehte sich um und ging zu seiner Liege zurück.
»Wenn du meinst. Aber du hast vorher auch noch nie einen Baumläufer gesehen, und trotzdem gibt es uns. Ich jedenfalls werde niemandem meinen Namen verraten.«
*
Draußen war es längst dunkel, als drei Männer die Stufen hinunter in den Keller kamen und Alvin, die auf ihrem Stuhl eingeschlafen war, aufweckten. Frichhelm, der Gemüsehändler, und ein Mann, von dem Alvin wusste, dass es der Schiedsmeister der Stadt war, blieben vor ihrer Zelle stehen und betrachteten sie im Schein ihrer Petroleumlampen durch die Gitterstäbe. Hinter ihnen stand der Hauptmann der Stadtwache, der Mann, der Alvin aufgegriffen hatte. Der Schiedsmeister, der in Birkstedt Recht sprach, war ein kleiner, runder Mann mit einer Jacke, die so voll Abzeichen hing, dass kaum noch ein freier Platz zu finden war. Er betrachtete Alvin von oben bis unten.
»Das ist also die Diebin.«
Frichhelm Meisbach nickte. »Sie mag vielleicht nicht so aussehen, aber sie ist eine ganz gerissene Gaunerin, und sie hat nicht nur mich bestohlen. Ich weiß noch von drei weiteren Händlern, denen sie ebenfalls Äpfel und Möhren gestohlen hat.«
»Stimmt es, was der Gemüsehändler behauptet?«
Alvin schwieg, und der Schiedsmeister verzog ärgerlich das Gesicht. »Nun, da du nichts zu sagen hast, nehme ich an, dass er recht hat.«
Frichhelm blickte Alvin feindselig an. »Es würde mich gar nicht wundern, wenn sie auch für die übrigen Diebstähle verantwortlich wäre.«
Der Schiedsmeister drehte verwundert den Kopf. »Wie stellst du dir das vor? Wie soll dieses Kind einen Schrank, einen Mühlstein oder gar die steinerne Statue unseres geliebten Bürgermeisters stehlen?«
»Außerdem«, mischte sich der Hauptmann der Stadtwache ein, »schwört der alte Hodde, dass es eine riesige Krähe gewesen sei.«
»Die Krähe hat er nur gesehen, weil er im Wirtshaus ständig unter dem Tisch trinkt.« Frichhelm schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin sicher, dass es dieses Kind war; vielleicht hatte sie ja einen Komplizen?« Er warf Tam-Tam, der in seiner Zelle auf der Liege saß und zu ihnen herüberschaute, einen bedeutungsvollen Blick zu.
Das Gesicht des Schiedsmeisters konnte nicht verbergen, was er von der Theorie des Gemüsehändlers hielt. Wahrscheinlich war er ebenso wie Alvin der Meinung, dass sich Frichhelm zu lange in der Sonne aufgehalten hatte. Dennoch wandte er sich an den Hauptmann der Stadtwache.
»Warum ist der Baumläufer hier?«
»Wir haben ihn in der Stadt aufgegriffen. Er sagt, er habe sich verlaufen und sei nur zufällig auf Birkstedt gestoßen.«
Der Schiedsmeister legte seine Stirn in Falten und schaute Tam-Tam verwundert an. »Stimmt das?«
Der Junge nickte widerwillig.
»Ich habe noch nie von einem Baumläufer gehört, der sich verlaufen hat. Wie ist dein Name?«
»Hab' ich vergessen.«
Das Gesicht des Schiedsmeisters verfinsterte sich.
»So, den hast du vergessen. Mal sehen, wie viele Wochen du in dieser Zelle hockst, bis er dir wieder einfällt.« Er blickte Alvin an. »Und was ist mit dir? Hast du deinen Namen auch vergessen?«
Das Mädchen nickte.
»Ihr Name ist Alvin«, sagte der Gemüsehändler.
Das Mädchen schaute ihn entsetzt an. Sie hatte nicht geahnt, dass er ihren Namen kannte.
»Dein Name ist also ... «, begann der Schiedsmeister. Dann wurde ihm klar, was der Gemüsehändler gesagt hatte. Sein Kopf ruckte herum, und seine Nase schien Frichhelm aufspießen zu wollen. »Wie ist ihr Name?«
»Sie heißt Alvin. Sie ist die Tochter des Schuhmachers. Ich habe sie früher öfter zusammen mit ihrer Mutter auf dem Markt gesehen.«
Der Schiedsmeister blickte Frichhelm fassungslos an. »Bist du dir auch ganz sicher?«
Frichhelm nickte.
Der Schiedsmeister warf dem Mädchen einen langen Blick zu. »Kann das sein? Nach all den Jahren?«, murmelte er.
Dann hatte er eine Entscheidung getroffen. Er drehte sich zum Hauptmann der Stadtwache herum und wies ihn an, die Zelle zu öffnen.
Der Gemüsehändler schaute verständnislos zu, wie der Schiedsmeister Alvin aus ihrer Zelle holte und mit ihr den Keller verließ. Der Hauptmann der Stadtwache folgte ihnen.
Kapitel 3 - Der unglaubliche Magier
Der Schiedsmeister zog Alvin mehr hinter sich her, als dass sie selber ging. Er legte ein Tempo vor, als wäre der unglaubliche Magier, von dem Tam-Tam gesprochen hatte, hinter ihnen her. Alvin hatte nicht die geringste Vorstellung, wohin man sie brachte oder was man von ihr wollte. Sie wünschte sich nur, zu Hause zu sein, wo sie die ganze Sache vergessen könnte, doch sie bezweifelte, dass der Schiedsmeister sie so einfach gehen lassen würde. Ihr Vater war sicher auch längst von der Arbeit nach Hause gekommen und machte sich Sorgen um sie. Alvin war bisher noch nie so lange fortgewesen. Sie hoffte nur, dass man jetzt, wo man ihren Namen kannte, ihren Vater benachrichtigen würde. Kein Donnerwetter konnte so furchtbar sein wie eine Nacht in einer von diesen Zellen. Hätte sie gewusst, dass dieser Gemüsehändler so nachtragend war, hätte sie sich einen anderen Stand ausgesucht.
Am Ende der Treppe kamen sie an eine massive Holztür. Der Hauptmann der Stadtwache nahm einen klimpernden Schlüsselbund von seinem Gürtel und sperrte die Tür auf. Dahinter führte ein Gang weiter, bis er nach einer weiteren Tür in einer großen Halle mündete. Man führte Alvin die Treppe hinauf, die sich rechts neben der Eingangstür ins Obergeschoss schlängelte. Hier oben waren die Räume und Flure weitaus luxuriöser als im Erdgeschoss oder gar im Keller. Die Wände waren aus fein gemaserten Hölzern und mit bunten Wandteppichen geschmückt. Alle paar Meter hingen brennende Leuchten an der Decke, und Türen zweigten rechts und links des Ganges ab.
Nach einiger Zeit kamen sie an eine breite Tür, hinter der Alvin hämmernde Geräusche hörte. Der Schiedsmeister öffnete sie und zog das Mädchen mit sich.
In der Mitte des Raumes stand vornübergebeugt ein kleiner, untersetzter Mann mit roten Haaren und einem langen roten Bart. Er hatte eine Hand zum Schutz gegen die Sonne an die Augenbrauen gelegt, die andere erhoben, als wollte er denen, die ihm nachfolgten, den Weg weisen. Obwohl Alvin ihm selbst noch nie begegnet war, kannte sie seine Statue, die bis vor Kurzem noch auf dem Marktplatz gestanden hatte und dann über Nacht spurlos verschwunden war. Der Mann, der regungslos vor ihnen stand und sie aus den Augenwinkeln heraus anschielte, war Bodo Brüggehausen, der Bürgermeister von Birkstedt.
Aus der gegenüberliegenden Ecke des Raumes drang ein ärgerlicher Schrei. »Nicht bewegen. Wie soll ich denn anständige Arbeit leisten, wenn Sie ständig herumzappeln, Herr Bürgermeister?«
Neben einem rechteckigen, zwei Meter großen Steinklotz stand ein kleiner Mann in einem weißen, geflickten Kittel und hielt einen Hammer und einen Meißel in der Hand. Der Boden zu seinen Füßen war mit Staub und Steinbrocken in allen Größen bedeckt und mit jedem Schlag kamen weitere hinzu. Hinter ihm standen vier junge Leute, ebenso gekleidet wie er und beobachteten jede seiner Bewegungen.
Der Schiedsmeister ließ Alvin an der Tür stehen und trat auf den Bürgermeister zu, ohne auf die wütenden Proteste des Bildhauers zu achten.
»Was wollen denn die vielen Leute hier? So geht das nicht. Um ein Kunstwerk schaffen zu können, brauche ich Ruhe. Ich komme mir ja vor, als wäre ich auf dem Marktplatz.«
Der Schiedsmeister beugte sich zum Bürgermeister hinunter, flüsterte etwas in sein Ohr und deutete auf Alvin. Mit einem Ruck richtete der Bürgermeister sich auf und starrte das Mädchen an. Alvin verstand nicht, warum alle wegen einer Handvoll Möhren so einen Aufstand machten.
Bodo Brüggehausen brachte den tobenden Bildhauer mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Wir machen morgen weiter. Mir sind dringende Staatsgeschäfte dazwischengekommen.«
Die Stimme des Bürgermeisters schien so gar nicht zu seiner kleinen, untersetzten Gestalt zu passen. Sie war kräftig und klar, und sie duldete keinen Widerspruch. Der Bildhauer drehte sich um und winkte seine Lehrlinge heran, die den Steinblock an vier Ecken packten und stöhnend und keuchend anhoben. Angefeuert von den wütenden Beschimpfungen des Bildhauers, trugen sie ihn an Alvin und dem Hauptmann der Stadtwache vorbei zur Tür hinaus. Als sie auf dem Flur verschwunden waren, wandte sich der Bürgermeister an Alvin. »Stimmt es, dass dein Name Alvin ist und dass du auf dem Marktplatz gestohlen hast?«
»Das mit den Möhren kann ich erklären ...«
»Die Möhren interessieren mich nicht!«
»Aber mit den anderen Diebstählen habe ich nichts zu tun«, unterbrach Alvin den Bürgermeister, »und ich weiß auch nicht, wer Ihre Statue gestohlen hat.«
Der Bürgermeister kam näher und schaute ihr nachdenklich in die Augen. Seine Finger fuhren durch seinen roten Bart.
»Die ganze Zeit über haben wir nach einem Jungen gesucht, darauf, dass Alvin ein Mädchen sein könnte, sind wir nie gekommen.« Ganz langsam erschien auf seinem finsteren Gesicht ein Lächeln.
»Vielleicht bist du ja wirklich diejenige, auf die wir gewartet haben, obwohl ich schon längst nicht mehr daran geglaubt habe.«
Bodo Brüggehausen drehte sich zum Hauptmann der Stadtwache herum. »Trommle eine Köchin aus dem Bett. Sie soll der Kleinen etwas zu essen machen. Alvin wird sicher Hunger haben. Außerdem soll man ihr einen Platz zum Schlafen herrichten. In diesem riesigen Gebäude wird es ja wohl irgendwo noch ein unbenutztes Bett oder eine Couch geben. Alvin braucht Ruhe. Die nächsten Tage werden noch anstrengend genug.«
Die letzte Anweisung, die der Bürgermeister dem Hauptmann gab, jagte Alvin eine Gänsehaut über den Rücken.
»Und schickt einen Reiter nach Falkendorf. Der Magier soll sich sofort auf den Rückweg machen«, sagte er.
*
Die Köchin sah so ganz anders aus, als Alvin sie sich vorgestellt hatte. Weder besaß sie die Figur einer tausendjährigen Eiche, noch hatte sie ein Mundwerk, mit dem man Leute erschlagen konnte. Ihr Name war Anca. Sie war klein und zierlich, mit einem lieben Gesicht, und sie machte die beste Gemüsesuppe, die Alvin jemals gegessen hatte. Sie versprach dem Mädchen, dafür zu sorgen, dass man ihren Vater benachrichtigte.
Nach dem Essen wurde Alvin in ein Zimmer geführt, das so mit Büchern vollgestopft war, dass sie bis unter die Decke reichten. In einer Ecke stand ein runder Tisch mit geschwungenen Beinen, auf dem ein Krug und mehrere Becher aus Silber sowie eine gefüllte Obstschale standen.
Alvin legte ihren Hut und ihre Tasche ab und löschte das Licht der Lampe, die man ihr dagelassen hatte. Eigentlich wollte sie sich auf der Couch nur einen Moment ausruhen, bis ihr Vater kam, doch als sie sich hinlegte und die Augen schloss, war sie sofort eingeschlafen.
*
Als sie am nächsten Morgen aufwachte, wurde es draußen bereits hell.
Alvin hatte ihre Sachen gerade zusammengepackt, da öffnete sich leise die Tür, und ihr Vater trat herein.
»Oh Alvin«, seufzte er, als er sah, dass sie wach war, »was hast du nur wieder angestellt?« Er nahm Alvin in den Arm und drückte sie.
»Musst du mir denn ständig Ärger machen?«
»Es waren doch nur ein paar Möhren«, sagte sie kleinlaut.
»Das spielt keine Rolle. Du hast gestohlen, und wie der Hauptmann sagt, wohl nicht das erste Mal. Was hast du dir eigentlich dabei gedacht? Bekommst du bei mir nicht genug zu essen?«
»Die Möhren waren für ein paar Freunde von mir.«
»Dann sollen sich deine Freunde ihre Möhren gefälligst selbst stehlen«, sagte ihr Vater ärgerlich. »Sei froh, dass der Bürgermeister dich nicht in einer Zelle hat übernachten lassen.« Er deutete auf ihren Hut und ihre Tasche. »Nimm deine Sachen und komm! Man wartet schon auf uns.«
*
Im Arbeitszimmer des Bürgermeisters waren fast ein Dutzend Menschen versammelt, hauptsächlich Soldaten der Stadtwache, aber auch einige Zivilisten. Bodo Brüggehausen stand umringt von ihnen hinter einem riesigen Schreibtisch mit einer aufgeschlagenen Landkarte. Neben ihm erkannte Alvin den Hauptmann der Stadtwache und den Schiedsmeister.
Als der Bürgermeister sie hereinkommen sah, schaute er von seiner Landkarte auf. »Das ist Willrich, der Schuhmacher, mit seiner Tochter Alvin«, stellte er das Mädchen und ihren Vater vor. Die Köpfe der Menschen, die sie bisher noch nicht bemerkt hatten, drehten sich in ihre Richtung.
Der Bürgermeister winkte Alvin zu sich heran.
»Komm näher, hab keine Angst. Wir haben schon auf dich gewartet.«
Willrich hielt seine Tochter zurück. »Kann ich nicht einfach den Schaden ersetzen und meine Tochter wieder mit nach Hause nehmen?«, fragte er.
Der Bürgermeister schaute ihn mit einem seltsamen Blick an. »Es gibt Dinge, vor denen kann man nicht davonlaufen. Deine Tochter ist etwas ganz Besonderes. Wir haben viele Jahre auf sie gewartet. Nur Alvin hat die Macht, unser Land vor dem Untergang zu bewahren.«
Alvins Vater kniff die Augen zusammen und schaute Bodo Brüggehausen seltsam an. »Was habt ihr mit ihr vor?«
»Wenn ihr mir die Gelegenheit gebt, werde ich euch alles erklären.« Er deutete auf einen freien Platz neben seinem Schreibtisch und Alvin und ihr Vater kamen näher.
»In der Zeit vor dem magischen Krieg war unsere Welt unvorstellbar groß. Manche behaupten sogar, sie war unendlich«, begann der Bürgermeister. »Damals lebten viele machtvolle Magier, die mit ihren Kräften ein gewaltiges Reich beherrschten und es ständig vergrößerten. Irgendwann kamen sie in ein Gebiet, in dem die Sonne niemals schien und die Tage so dunkel, wie die Nächte waren. Dort lebten Wesen, die aus den Schatten dunkler Seelen entstanden waren. In der Chronik steht geschrieben, dass der Krieg gegen die Schattendämonen so heftig tobte, dass sich der Himmel für Monate verfinsterte und Eis und Schnee das Land bedeckte.«
»Ich wüsste nicht, was das mit Alvin zu tun hat. Die Zeit der Magier und der Schattendämonen ist lange vorbei und der Krieg Ewigkeiten her.«
»Hab' etwas Geduld. Es ist wichtig, dass ihr wisst, wie unsere Welt entstanden ist, damit ihr die Gefahr versteht, die uns droht.« Der Bürgermeister erzählte weiter. »Obwohl die Magier sehr mächtig waren, konnten sie gegen die Schattendämonen nichts ausrichten. Diese Wesen kannten weder Angst noch Schmerz -, und sie konnten nicht sterben. Mit jedem Tag mussten die Magier weiter zurückweichen, während die Welt um sie herum in Trümmern lag. Die letzten der Magier schlossen sich zusammen und erschufen mit ihren gemeinsamen Kräften einen Ort, an dem sie vor den Schattendämonen sicher sein würden: eine Welt innerhalb der Welt.«
Bodo Brüggehausen drehte sich um und schaute durch das Fenster hinaus auf die Dächer und Türme von Birkstedt, die sich vor einem strahlend blauen Himmel abzeichneten.
»Das, was ihr als unsere Welt kennt, ist dieser Ort. Eine riesige Glocke, die die alten Magier vor langer Zeit über einen Teil der Welt gestülpt haben. Diese unsichtbare Grenze hindert uns daran, hinauszugelangen, so wie sie die Schattendämonen daran hindert, hineinzukommen.«
Alvin schaute an Bodo Brüggehausen vorbei und sah in der Ferne zwischen den Wolken ein paar Vögel kreisen. Nichts deutete darauf hin, dass es irgendwo dort draußen eine Grenze gab, die ihre Schritte und ihre Blicke lenkte. Wenn es stimmte, was der Bürgermeister erzählte, wie mochte es dann dahinter aussehen? Tobte der magische Krieg noch immer oder hatten die Schattendämonen gewonnen und die restliche Welt in Schutt und Asche gelegt?
Der Bürgermeister schaute Alvins Vater wieder an. Nachdem dieser Ort geschaffen wurde, dauerte es einige Jahre, bis sich das Leben normalisierte. Die Menschen bauten ihre Häuser wieder auf und bestellten ihre Felder. Erst viel später bemerkten sie den verhängnisvollen Fehler, den die Magier begangen hatten. Als sie die magische Grenze schufen und diesen Ort von dem Rest der Welt trennten, schlossen sie einen der Schattendämonen mit ein.«
Alvins Vater blickte Bodo Brüggehausen entsetzt an.
»Soll das heißen, dass sich eines dieser Ungeheuer noch immer dort draußen in den Wäldern herumtreibt?«
Der Bürgermeister nickte. »Das Ungeheuer weitet seine Macht ständig aus. Wir mussten schon den ersten Hof im Norden von Falkendorf räumen. Irgendwann wird es die Wälder verlassen und über Birkstedt und die anderen Dörfer herfallen.«
Alvin dachte an die vielen Menschen, die in den Wäldern verschwunden waren. Plötzlich ahnte sie, was mit ihnen geschehen war.
»Menschen und Tiere, die in seinem Einfluss leben, verändern sich und werden zu Kreaturen, die nur noch dem Schattendämon gehorchen. Vielleicht hätten wir schon vor Jahren eine Armee ausschicken sollen. Doch wie soll man einen Gegner besiegen, der nicht sterben kann und dessen größte Waffe die Magie ist?«
In diesem Moment kam ein fetter, grau getigerter Kater mit schwarzen Ohren und einem schwarzen Schwanz in den Raum. Die Menschen, die ihn bemerkten, wichen zur Seite und machten ihm hastig Platz. Das Tier schob seinen gut gefüllten Bauch durch den Raum und sprang mit einem Satz, den man ihm angesichts seines Gewichtes gar nicht zugetraut hätte, auf den Schreibtisch, direkt vor Alvins Nase.
»Heh«, protestierte das Mädchen, als ihr der Schwanz des Katers ins Gesicht schlug, und bevor jemand etwas sagen konnte, hatte sie das Tier gepackt und zurück auf den Boden gesetzt. Der Kater fauchte drohend, und die Wachleute, die in seiner Nähe standen, sprangen entsetzt zurück.
Das Tier blickte Alvin an, als wäre sie eine Maus. Dann hüpfte es zurück auf den Schreibtisch und kam auf sie zu, bis es ihr direkt in die Augen blicken konnte.
»Ich weiß zwar nicht, wer du bist, aber ich habe gerade beschlossen, dich nicht zu mögen.«
Alvin sperrte Mund und Augen weit auf. »Du kannst sprechen?«
Der Kater legte den Kopf schief. »Na und, du kannst doch auch sprechen.«
»Aber du bist eine Katze.«
»Ich bin ein Kater, du dummes Menschenkind.« Das Tier hob den Kopf und schaute zum Bürgermeister hinüber. »Was macht dieses Kind hier?«
»Ihr Name ist Alvin. Sie hat auf dem Marktplatz gestohlen.«
Als der Bürgermeister Alvins Namen erwähnte, zuckten die Barthaare des Katers. Erstaunt sah er Bodo Brüggehausen an.
»Du glaubst doch wohl nicht, dass dieses kleine, hässliche, verdreckte Menschenkind der Alvin ist, von dem die Chronik berichtet?«
Der Bürgermeister nickte. »Ich hoffe es.«
Der Kater warf Alvin einen verächtlichen Blick zu.
»Ganz sicher nicht. Dieses Kind hat nicht mehr magische Fähigkeiten als das graue, vierbeinige Frühstück, das ich heute Morgen verspeist habe.«
»Hast du ihre Kette gesehen?«
Der Kater nickte. »Zufall. Wahrscheinlich hat sie die Kette auch irgendwo gestohlen.«
»Die Kette hat meiner Frau gehört«, erwiderte Willrich ärgerlich.
»Weißt du, woraus der Anhänger besteht?«, fragte der Bürgermeister.
Alvins Vater schwieg.
»Er ist aus verfestigter Magie«, erklärte Bodo Brüggehausen. »Das ist Magie der alten Magier, die eine feste Form angenommen hat. Man findet diese Stücke nicht allzu oft in unserem Land. Sie sind nicht wertvoll, nur selten.«
Der schwarze Schwanz des Katers zuckte. »Sie mag zwar Alvin heißen und einen Anhänger aus verfestigter Magie tragen, doch das einzig Besondere an ihr ist, dass sie wie ein Rabe stiehlt.«
Alvin hatte nicht vor, sich von einem Kater, auch wenn er sprechen konnte, einschüchtern zu lassen. »Sind alle Katzen so unverschämt, oder ist dieses Tier eine Ausnahme?«
Der Kopf des Katers ruckte herum. »Hüte deine Zunge, sonst hast du die längste Zeit eine besessen.«
»Du solltest ihn lieber nicht reizen, er kann sehr nachtragend sein«, mischte sich der Bürgermeister ein. »Sein Name ist Zodiac. Man nennt ihn den unglaublichen Magier.«
»Ein Kater?«
Zodiac schaute sie finster an. »Hast du etwa wirklich geglaubt, Magier gäbe es nur unter euch Menschen?« Er erhob sich und ging auf dem Schreibtisch auf und ab. »In Wirklichkeit findest du sogar einige der mächtigsten Magier unter uns Tieren, und nur weil sie nicht mit dir sprechen, heißt das noch lange nicht, dass sie es nicht können, sondern nur, dass sie einen guten Geschmack haben.«
Der Kater ignorierte Alvins verärgertes Gesicht und lief quer über die Landkarte, bis er vor dem Bürgermeister stehen blieb. »Schmeiß sie raus und lasst uns die Sache verschieben. Das ist nicht die Alvin, von der die Chronik berichtet.«
»Vielleicht ist sie es wirklich nicht, doch ich habe meine Entscheidung getroffen. Sie wird uns begleiten.«
Alvins Vater zog seine Tochter zu sich heran. »Ich weiß zwar nicht, was ihr mit Alvin vorhabt, aber ich lasse nicht zu, dass ihr sie in Gefahr bringt.«
Das Gesicht des Bürgermeisters verfinsterte sich. »Sobald die Reiter aus den umliegenden Dörfern eingetroffen sind, werden wir losziehen, um den Schattendämon zurückzutreiben, und deine Tochter wird uns begleiten«, sagte er.
»Oh nein, ich werde Alvin mit nach Hause nehmen.«
»Deine Tochter hat gestohlen, und dass sie jetzt nicht in einer Zelle sitzen muss, liegt nur daran, dass sie vielleicht wirklich die Macht hat, um unser Land zu retten!«
Alvins Vater kniff die Augen zusammen und schaute den Bürgermeister mit einem Blick an, den Alvin noch nie zuvor an ihm gesehen hatte. »Bodo Brüggehausen, du wirst meine Tochter und mich gehen lassen!«
Der Bürgermeister blinzelte überrascht. Zodiac war mit einem Satz vor ihm und fauchte Willrich drohend an. »Hör auf damit!«
Alvins Vater drehte den Kopf, und der Bürgermeister schaute sich einige Sekunden verwirrt um. Dann sprach er weiter, als wäre nichts gewesen. »Ich verstehe ja, dass du dir um deine Tochter Sorgen machst, aber ihr wird nichts geschehen. Der Schattendämon weiß nicht, dass wir kommen. Außerdem begleiten uns viele erfahrene Kämpfer, und einer der mächtigsten Männer dieses Landes wird nur auf deine Tochter aufpassen: Zodiac.«
»Was?«, riefen Alvin und Zodiac wie aus einem Mund.
»Das kommt gar nicht infrage.« Zodiac schüttelte energisch seinen grau getigerten Kopf. »Ich bin doch kein Kindermädchen.«
»Und ich habe keine Lust, den ganzen Tag sein Genörgel zu ertragen.«
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